Von der Freiheit eines Künstlers – Hans Scheuerecker in der DNN

Bericht vom 27.09.2017 / DNN

Von der Freiheit eines Künstlers
Hans Scheuereckers Bilder bei Ines Schulz in Dresden

von Jörn Merkert

Das war eine Befreiung. Nein, das ist eine Befreiung. Hans Scheuerecker hat Cottbus endgültig den Rücken gekehrt. Er ist fertig mit dieser Stadt, die ihm über Jahrzehnte Reibungsfläche war – Antipode seines Lebens, im Alltag, in der Kunst. Seine Antwort auf die klein-klein gemusterte Cottbuser Welt war neben kämpferischen öffentlichen Auseinandersetzungen und skandalträchtigen Provokationen gleichzeitig immer wieder auch der Rückzug in die Einsamkeit des Eremitendaseins. Das ist jetzt überwunden. Er hat sich – radikaler noch als bisher, obwohl das kaum vorstellbar schien – auf seine ureigene Weltwirklichkeit konzentriert, seine Kunst.

Seit diesem Bewusstseinsschnitt, in der radikalen Trennung die notwendige Bedingung für eine ebenso grundlegende Befreiung zu erkennen, ist einiges passiert. Dieser Schnitt löste bei ihm einen selten so gekannten Kreativitätsschub aus, mit zahllosen neuen, teilweise monumentalen Bildern und einer wahren Flut von Zeichnungen. Er begegnete anderen Menschen im Privaten wie im professionellen Kunstbetrieb, nahm auf jeder Ebene die Herausforderung an, zum Beispiel rauszugehen mit seinen Bildern nach Dresden. Er nahm hier schon an Gruppenausstellung unter alten Künstlerfreunden teil und hat jetzt seine erste große Einzelausstellung in dieser Stadt. Endlich, denn früher war es nur äußerst selten, dass Hans Scheuerecker seine Höhle verließ.

Jedes Mal ein großes Abenteuer

Seine Bilder sind klarer geworden, noch einfacher in ihrer Formensprache. Schon in den letzten zehn Jahren hatte er konsequent daran gearbeitet, eine möglichst absolute Flächigkeit des Bildes zu erreichen, jede Andeutung von Räumlichkeit auszuschließen. Das führte aus der inneren Logik bildnerischer Gesetzmäßigkeit zunächst zum strikten Verzicht auf die expressive Geste. Denn Geste suggeriert unvermeidlich immer wieder perspektivischen Raum. Die Leinwand ist aber eine Fläche, ist eine Fläche, ist eine Fläche. Dazu mussten die gemalten Sujets, selten Gegenstände, meist Köpfe und Gesichter, vor allem aber der Leib der Frau, im Bild jeder abbildenden Körperlichkeit entkleidet werden.

Damit war zwangsläufig eine fortschreitende Abstrahierung verbunden. Alles verdichtete sich zu Chiffren, verknappten Zeichen, die aber nie beliebig entstanden. Sie wurden vielmehr aus früheren Formfindungen herausgefiltert, in Teile zerlegt, vergrößert, verkleinert, gedreht oder gespiegelt und zu ganz anderen Bildern wie in einer gemalten Collage neu zusammengesetzt. In diesem Verfahren behält aber selbst die ungegenständlichste Form noch diese gleichsam innere Verhaftung an die sichtbare Welt, was der Betrachter ganz unwillkürlich spürt, auch wenn er sie sich nicht immer sofort zu entschlüsseln vermag. Darin liegt ein Teil der Spannung, die uns mit unseren Empfindungen in Scheuereckers Bilder hineinzieht.

Farbe trägt immer räumliche Suggestionskraftin sich. Auch in abstraktester Setzung, selbst ganz für sich allein, entfaltet sie auf der Fläche atmend bewegte Räume, in denen unsere Erlebnisse, Erinnerungen, unsere Emotionen ihren Ort finden. Im Nebeneinander, im Kontrast, im verschränkten Zueinander, in ihrem interaktiven Zusammenspiel werden sie in eine vor- und zurückpendelnde, pulsierende Bewegung versetzt. Sie in ihrem zeitlichen Ablauf ohne Anfang und Ende auf der Fläche des Bildes zu beherrschen, diese innere Bewegtheit gezielt zu dämpfen oder zu stimulieren, sie auszulösen oder ihnen durch andere Farbnachbarschaften eine andere Richtung oder Geschwindigkeit zu verleihen, das erfordert ein souveränes, strikt kontrolliertes Vorgehen des Malers. Aber auch für ihn bleibt es jedes Mal das große Abenteuer voller Unwägbarkeiten und Risiken.

Das Bild der Frau ist für Hans Scheuerecker (neben den „Köpfen“ und „Gesichtern“) schon immer ein, nein, das zentrale Thema seiner Kunst – mit allem, was dazugehört: Lust und Leiblichkeit und heißes Fleisch, Begierde und Orgie, Hingebung, Ausgeliefertsein, Sehnsucht, Erfüllung – wie für uns alle der Sex eine zutiefst existenzielle Erfahrung ist. Er ist gerade in der orgiastischen Lebensfülle und der ungehemmten, ja animalischen Kreatürlichkeit dem Tode mitten im Leben näher, als wir uns manches Mal eingestehen mögen. Sex, Erotik und entfesselte Sinnlichkeit bündeln sich zu einem Energiestrom, der zur Grenzüberschreitung des eigenen suchtvoll-begierigen Verlangens führt. Genau genommen, drängt diese Grenzüberschreitung aber immer auch nach Ausdruck, nach Anschaulichkeit. Denn die Seele und der Trieb sind Geschwister – im Spanischen in dem schönen Begriff der „Anima“ vereint – und erstaunlicher Weise will gerade die Lust, die sie verbindet, geistige Durchdringung. Davon erzählen die Bilder des Hans Scheuerecker.

Hommage an Lars von Trier

Lars von Trier hat mit seinem Film „Nymphomaniac“ von 2011 Scheuerecker so tief bewegt, dass diese Ausstellung genau genommen auch seine Hommage an diesen Filmemacher ist. Eine Nymphomanin erzählt in schmerzhaften Rückblenden und Reflexionen rückhaltlos von ihren sich stetig radikalisierenden, Schritt für Schritt sich entgrenzenden, steigernden sexuellen Obsessionen und Selbsterfahrungen. Der Zuschauer braucht viel Kraft, zuzuschauen und genau zuzuhören. Alles ekelt, schmerzt, widert an und ist doch zugleich von unvergleichlich strahlender Schönheit, sakraler Unbeflecktheit, schimmernder Reinheit und brutaler, nackter Wahrheit, eine völlig schutzlose Beichte, die schamlos – ohne Scham – den eigenen Körper der läuternden Zerstörung preisgibt. Dieser Film ist auch mit seinen vereinzelten anekdotisch-ironischen Brechungen wahrlich das purifizierende höllische Fegefeuer, dem keiner entrinnen kann. Hans Scheuerecker entdeckt in diesem Film das Werk eines Bruders im Geiste. Aber es ist nicht allein die Wahrhaftigkeit der darin anschaulichen Welterfahrung über Sex und Erotik, die sie verbindet. Es ist ebenso das gleich gelagerte Verständnis von der eigenen existenziellen Radikalität im künstlerischen Tun. Das Wunder der Kunst besteht darin, dass sie immer noch aus dem Allerprivatesten erwächst, aber in der künstlerischen Überhöhung gleich welcher Disziplin, in welchem Medium auch immer, zum allgemeingültigen, verbindlichen „antwortenden Gegenbild zur Wirklichkeit“ Goethe) wird.

Ein großer Tanz scheinen mir bisweilen Scheuereckers Bilder – gerade in ihrem erstaunlich filmischen Charakter: durch anschauliche Integration von Zeit im springenden Sehen, in der schnell fließenden Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Mit ihren ausholenden farbigen, zeichnerischen, kompositorischen Gesten, mit ihrer inneren Bewegtheit zwischen der melodisch atmend-pendelnden Raumplastizität der Farbe und der rhythmischen, bisweilen stakkatohaften Geschwindigkeit in den Schraffuren und Überschneidungen der Lineaturen. Der Betrachter wird auch gegen seinen Willen direkt in dieses tänzerische Bildgeschehens hineingezogen. Ganz widersprüchliche Stimmen vieler Instrumente sind zu hören und über das Sehen auch körperlich zu spüren. Da ist ein Reagieren auf einander und ein Agieren miteinander, ein schwingendes Wiegen, ein wirbelnder Reigen, eine gemeinsame vielschichtige Polyphonie, die auch schrille Dissonanzen ertönen lässt als Teil unserer Lebensmusik – wie im Jazz, im Pop oder Rock. Heftig und lautstark, dann wieder mit ganz leisen Momenten, melancholisch- lyrisch und fetzig zugleich. Ganz wie das Leben. Alle Bilder zusammengenommen sind dann wie ein großer Totentanz, der unterschiedslos jede und jeden, auch den Betrachter, unentrinnbar umfängt. Sie zeigen uns sehr sinnlich, keine Grenzen anerkennend, ein zutiefst erschreckendes, entfesseltes Pandämonium mit der „maxima vulva“ als tröstlich umfangenden Ort und gleichzeitig als Höllenschlund. Wie das Jüngste Gericht.